Verletzlichkeit – Der Schlüssel zu echten, tiefen Verbindungen
- Jérôme Rey

- 7. Juli
- 5 Min. Lesezeit

Die Verletzlichkeit und unsere Bindungs- und Beziehungsfähigkeit sind tief verwurzelte
menschliche Eigenschaften, die eng miteinander verknüpft sind und einen bedeutenden
Einfluss auf unsere Selbstwahrnehmung, unser Selbstvertrauen, letztlich auf alle Aspekte
unseres Lebens haben. Diese eng miteinander verknüpften Eigenschaften unseres
emotionalen und sozialen Lebens sind von zentraler Bedeutung für unsere Fähigkeit,
authentische und tiefe Verbindungen zu anderen Menschen aufzubauen und auch um uns
selbst, verbunden und frei zu erleben.
Verletzlichkeit
Verletzlichkeit bezieht sich auf die Bereitschaft, sich selbst und seine inneren Gefühle und
Bedürfnisse offen und ehrlich anderen gegenüber zu zeigen, was für das Verständnis und die
Akzeptanz in Beziehung von entscheidender Bedeutung ist. Es erfordert aber auch Mut, sich in dieser Weise zu öffnen, da es immer das Risiko gibt, (wieder) verletzt oder enttäuscht zu
werden.
Bindung und Beziehung
Unsere Beziehungsfähigkeit beschreibt die Fähigkeit, enge und gesunde Bindungen zu
anderen Menschen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Sie basiert auf Vertrauen, Empathie
und der Fähigkeit, sich in die Gefühle und Bedürfnisse anderer einzufühlen. Eine starke
Bindungsfähigkeit ermöglicht es uns, Beziehungen zu pflegen, die erfüllend und stabil sind.
Als Menschen gehören wir zu der Gattung der Säugetiere, welche nicht als Einzelgänger ihre
höchste Potenziale entfalten. Wir sind Wesen, welche in Kooperation auf allen Ebenen am
besten funktionieren. Um unsere Potenziale aber vollständig ausschöpfen zu können,
brauchen wir sichere Bindungen. Eine starke Bindungsfähigkeit erlaubt es uns, uns auf
andere Menschen zu verlassen und Unterstützung in Zeiten der Not zu finden. Wurden
diese Bindungserfahrungen in der Kindheit nicht ausreichend erlebt, was bei ganz vielen
Menschen der Fall ist, so befinden wir uns (meist unterbewusst) in einem ständigen
Überlebenskampf. Stress, Unruhe, Depression, Burnout, Panikattacken, Sinnlosigkeit
körperliche Beschwerden u.v.m können davon die Folge sein. Verletzlichkeit ist ein Schlüssel, um uns von Leiden zu befreien und in unsere natürliche
Lebenskraft zu kommen!
Allerdings hat unsere Verletzlichkeit sowohl eine heilsame als auch eine
herausfordernde Dimension.
Wir spüren oft eine gewisse Ambivalenz, da die Verletzlichkeit eng mit der Erinnerung an
frühere Traumata verknüpft ist, weshalb wir uns heute noch, oft unbewusst von Gefühlen und
Bedürfnissen abspalten. Dies kommt daher, dass wir zu einem früheren Zeitpunkt unseres
Lebens die Erfahrung gemacht haben, dass wir mit bestimmten Bedürfnissen und Emotionen,
nicht willkommen sind.
Die Kunst liegt heute, im HIER UND JETZT wieder mit unserer Verletzlichkeit und die
dahinterliegenden Bedürfnisse in Kontakt zu kommen und dies in einer sicheren
Umgebung mitzuteilen. Mit dieser neuen Erfahrung können wir wertvolle Lebensenergie
zurückgewinnen, unsere Selbstwirksamkeit stärken und somit unsere Verletzlichkeit als
eine Quelle der Stärke nutzen, die uns ermöglicht ein erfülltes und authentisches Leben zu
führen.
Verletzlichkeit als Grundlage zur Beziehungsfähigkeit
1. Authentizität: Verletzlichkeit erlaubt es uns, die Masken fallen zu lassen, authentisch
zu sein, unsere wahren Gedanken und Gefühle mitzuteilen, anstatt uns hinter einer
Fassade zu verstecken.
2. Emotionale Intimität: Verletzlichkeit ist der Schlüssel zur emotionalen Intimität.
Wenn wir uns öffnen und unsere tiefsten Emotionen teilen können, schaffen wir eine
tiefere Verbindung zu unserem Partner. Dies ermöglicht es uns, uns verstanden und
unterstützt zu fühlen.
3. Kommunikation: Verletzlichkeit ist der Schlüssel in der Kommunikation. Es
ermöglicht uns offen und ehrlich über unsere Bedürfnisse, Wünsche und Sorgen zu
sprechen. Dies wiederum fördert eine gesunde und effektive Kommunikation in
Beziehung.
Herausforderungen der Verletzlichkeit in Beziehungen:
1. Angst davor abgelehnt, ignoriert oder verlassen zu werden: Viele Menschen
fürchten sich davor sich verletzlich zu zeigen, da sie meist unbewusst Angst vor
Ablehnung und Ausgrenzung haben. Die Angst vor dem Verlassen werden und die
Angst vor Ausgrenzung ist ein tiefes Gefühl, das in unserer evolutionären
Geschichte verwurzelt ist. Für unsere Ahnen, war es in der Vergangenheit
überlebenswichtig, in der Gemeinschaft akzeptiert und nicht
ausgeschlossen zu werden. Als Kind erleben wir es genauso. Wir können nicht
einfach unsere Familie und unser Umfeld eigenständig ändern. Deswegen ist tief in
unserem Unterbewusstsein Verlassen werden mit Sterben assoziiert. Wir alle kennen
die Angst vor dem Verlassen werden. Falls diese aber mit Lebensgefahr verschaltet
ist, dann fehlt es uns im Leben an Abgrenzung. Wir wagen nicht oder nur wenig eine
eigene Meinung zu bilden und unsere Grenzen mitzuteilen. Auf der Gefühlsebene
sind wir von der Wut und natürlichen Lebensfreude abgeschnitten.
2. Angst dominiert oder manipuliert zu werden: wir können uns auch fürchten unsere
Verletzlichkeit mitzuteilen, wenn wir uns bewusst oder unbewusst vor Manipulation
oder Dominanz schützen wollen. Dies führt oft dazu, dass wir keine Bedürftigkeit
oder Schwäche zulassen können. Auf der Emotionalen Ebene verdrängen wir die
Gefühle von Trauer und Einsamkeit.
3. Verletzlichkeit erfordert Mut: Sich verletzlich zu zeigen, erfordert Mut. Es kann sich
total falsch anfühlen, zu unseren Gefühlen zu stehen. Scham und Schuldgefühle
treten in Zusammenhang mit unseren natürlichen Bedürfnissen nach Nähe und
Freiheit auf. In diesem Falle sprechen wir in der Traumatherapie von toxischer Scham
und Schuld. Darunter liegt immer ein positives Bedürfnis, welches in der Kindheit
nicht gesehen oder akzeptiert wurde und wir es aufgrund dessen heute selber nicht
zulassen. Es kann also zuerstmal unangenehm und beängstigend erscheinen,
aber die Belohnungen in Form von tiefen und erfüllenden Beziehungen
sind es wert.
4. Vertrauen als Grundlage: Vertrauen ist eine unverzichtbare Grundlage für
gesunde Beziehungen. Verletzlichkeit und Vertrauen gehen Hand in Hand
Wenn wir uns verletzlich zeigen und unsere intimsten Gedanken teilen,
bauen wir Vertrauen in unsere Beziehung auf.
Ausführliche wissenschaftliche Studien über den Zusammenhang von sicherer Bindung
Selbstwahrnehmung, Selbstwert und die Fähigkeit von sozialem Kontakt liefert uns die
Polyvagaltheorie von Steven Porges. Sie bietet uns eine wertvolle neurophysiologische
Grundlage unseres Beziehung und Kontakt Erlebens.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Verletzlichkeit ein Schlüssel zur
Beziehungsfähigkeit ist. Sie erlaubt es uns, tiefere und bedeutungsvollere Verbindungen zu
anderen Menschen aufzubauen, sei es in romantischen Beziehungen, Freundschaften
Business- oder Familienbeziehungen. Es erfordert Mut, sich verletzlich zu zeigen, aber die
Belohnungen sind die Stärkung von Vertrauen, Intimität und gegenseitiges Verständnis in
unseren Beziehungen.
Um unsere höheren Potenziale als Menschen zu entfalten, eine Gesellschaft des Friedens
und der Liebe zu gestalten und unsere Umwelt zu schützen, sollten wir uns verstärkt auf die
Entwicklung unserer zwischenmenschlichen Fähigkeiten konzentrieren. Personen, die in der
Lage sind, ihre eigenen Emotionen und die anderer Menschen zu verstehen, zeigen
automatisch mehr Respekt füreinander leben in größerem Frieden und schätzen das
Geschenk des Lebens mehr. In dieser Zeit des großen Wandels wird immer offensichtlicher,
dass die alten Herangehensweisen uns leiden lassen. Wir sind aufgefordert, uns von den
alten Machtkämpfen zu lösen, sodass wir nicht länger im ständigen Konflikt miteinander
stehen, sondern erkennen, dass wir unsere volle Potenzialentfaltung am besten durch
Kooperation erreichen können. Anstelle von Wettbewerb und Überlebenskampf können wir
uns auf ein achtsames Miteinander ausrichten. Diese intensive und unglaublich spannende
TransformationZeit, lädt uns ein unseren Platz im «Grossen Ganzen» als wunderbare,
fühlende, kreative, schöpfende und kooperative Wesen zu entdecken und zu entfalten!
September 2023, Jérôme Rey




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